Am 30. Juni 2011 hat Abt Maximilian in der Sala Clementina des Apostolischen Palastes als erster deutschsprachiger Theologe den erstmals vergebenen „Premio Joseph Ratzinger“ entgegengenommen. An der Feier nahmen 35 Kardinäle, 30 Bischöfe, der Botschafter Österreichs und Deutschland sowie hochrangige Vertreter des kirchlichen und akademischen Lebens teil. Die Medien hatten den Preis im Vorfeld – nach einem Wort von Kardinal Ruini – als „Nobelpreis der Theologie“ bezeichnet.
Niemand geringerer als Papst Benedikt XVI. hat ja den Preis gestiftet. Abt Maximilian hat in Rom viele Ehrungen empfangen, er wurde von Abt Gregor, Pater Karl, Pater Justinus und seinem Großneffen und Patenkind Nikolai Dörrschmidt begleitet. Die Ehrung gilt, so hat Abt Maximilian immer wieder betont, zugleich dem gesamten Stift und der Hochschule. Das hat auch der Heilige Vater deutlich gemacht, der eine lange programmatische Ansprache gehalten hat, in der er, ausgehend von Bonaventura, das Verhältnis von Wissen und Glauben behandelt hat. Also wieder das Thema, das er schon bei seiner Ansprache in Heiligenkreuz aufgegriffen hatte. Es ist ihm ein Anliegen, dass die Theologie beides, Fides et Ration, Glaube und Vernunft, miteinander verbindet.
Abt Maximilian hat nach einer kurzen Lateinischen Dankansprache vor dem Papst einen Vortrag darüber gehalten, was heute einen guten Theologen auszeichnen soll.
anlässlich der Verleihung des „Benedikt XVI.-Preises“ am 30. Juni 2011
in der Sala Clementina des Vatikan vor Papst Benedikt XVI. zahlreichen Kardinälen, Bischöfen und Festgästen
Rom, 30.06.2011 – Es gilt das gesprochene Wort.
Der Theologe als cooperator veritatis
Sanctissime Pater!
Vobis – non meo tantum nomine, sed his quoque duobus theologis, qui una mecum praemii palmam tulerunt, annuentibus – tota mente ac animo sincero gratias ago maximas ac plurimas pro illo honore, quo commodule brabeo hoc theologico Ratzingeriano exornati sumus.
Liceat mihi inter laureatos natu minimo et Vobis, Sanctissime Pater, pro benevolentia Vestra et Vobis, eminentissime domine, pro verbis honorificis prolatis necnon toti coetui festivo gratias referre.
Aperte mihi confiteor me in conspectu illius stupendi operis theologici, quod ambo alii práemii consortes, egregii illi atque doctissimi professores Manlius Simonetti Olegariusque Gonzalez de Cardedal, effecerunt, humilitate profunda atque sincera esse locuturum.
Illud, quod Vobis, Sanctissime Pater, carum est et grave, praeceptum Sancti patris Benedicti, qui in regulae libello admonuit, ut omnes ad consilium vocarentur, „quia saepe iuniori dominus revelat, quod melius est“, mihi solacio est et animum confirmat.
Sanctissime Pater, muneribus sive professoris theologiae sive episcopi sive supremi ecclesiae universalis pastoris – quod munus nunc exercetis – fungentes nos triumvirales brabeo Ratzingeriano, quod dicitur, quasi laureatos modo tam diverso quam singulari et commovistis et formastis et quodammodo cudistis. Mihi nunc propositum est iis, quae sequuntur, verbis animum in ea intendere, quae magistri theologiam profitentis sunt.
Ein in die Augen fallendes Spezifikum des christlichen Glaubens ist sein „intellektuelles“ Moment. Bereits im Missionsauftrag Jesu heißt es „euntes ergo docete omnes gentes“. Der Auferstandene sendet uns in die Welt, die Menschen zu lehren: ER will erkannt werden. ER will gekannt und geliebt werden.
Das ist keineswegs etwas Selbstverständliches. Wir können mit Gott, der die Wahrheit ist, in eine personale, ja persönliche Beziehung eintreten. Und dennoch gilt es, immer wieder neu darauf hinzuweisen, dass sich der Wahrheitsanspruch des Glaubens nicht einfach in den subjektiven Bereich abdrängen lässt. Heiliger Vater, Sie sind, für einige schon seit sechs Jahrzehnten, ein Lehrer, der seine Schüler formt: jemand, der mit wachem Auge und tiefem Gespür unserer Zeit zugewandt ist und ihre Not mitträgt – und gerade deshalb den allzu glatten Lösungen des Zeitgeistes standhält. Auch Sie haben Formung erfahren, von den Kirchenvätern und den großen scholastischen Denkern, besonders von Augustinus und Bonaventura und von zeitgenössischen Theologen wie etwa Gottlieb Söhngen.Für Augustinus wie Bonaventura vermag ein menschlicher Lehrer zwar den Blick des Schülers zu lenken, die eigentliche Unterweisung aber kommt von der Wahrheit selbst. Im Bild gesagt: Der „äußere Lehrer“ öffnet die Fensterläden, damit das Licht der Wahrheit einströmen kann. Auf diese Weise weckt er den Mut zur Wahrheit. Sie ist es, die sich durch den Dienst des Lehrers offenbart. Der Lehrer im eigentlichen Sinne jedoch ist die Wahrheit selbst, die letztlich Christus ist. So gelingt es dem Schüler, den zu sehen, den auch der Lehrer sieht. Die Verantwortung des Lehrers liegt darin, dass er selbst jemand sein muss, der die Wahrheit liebt, sie tiefer zu verstehen sucht, und danach verlangt, sich von ihr formen zu lassen. Er weiß, dass er selbst ein Empfangender ist.
Ein theologischer Lehrer will daher den Schüler zu der Begegnung mit Gott führen. Und weil er selbst von dieser Nähe umfasst ist, lehrt er in Freude – einer Freude, die auch der Liebe zu den Menschen, die ihm anvertraut sind, entspringt. Diese Liebe und Freude – so Augustinus – ermöglichen ihm, trotz mancher Enttäuschungen von außen oder Ermüdung von innen seinem Dienst treu zu bleiben.
Im Lehren und Verkündigen vereinen sich also auf ganz besonders innige Weise Gottes- und Nächstenliebe, Freundschaft mit Christus und Nachfolge Christi, Kontemplation und Apostolat. Denn das Lehren, so bemerkt Thomas von Aquin, hat ja zwei Objekte bei sich: doceo aliquem aliquid. Man muss Gott lieben, über den man spricht, und die Menschen, zu denen man spricht. Der zweite große Lehrer, der Sie, Heiliger Vater, wohl gerade in der Auffassung von Theologie prägte, ist Bonaventura. Bei ihm gehen wissenschaftliche Methode und geistliches Feuer, Anstrengung des Begriffs und seelsorglicher Eifer eine einzigartige Symbiose ein. Der Theologe hat nach Bonaventura die wundervolle, aber auch höchst verantwortungsvolle Aufgabe, dem WORT Gottes seine sprachliche Ausdruckskraft zur Verfügung zu stellen – sich um Angemessenheit, Klarheit und Schönheit zu mühen. Hier sind Sie uns, Heiliger Vater, als Theologe ein hervorragendes Vorbild. Sie vermögen es immer wieder aufs Neue sprachliche Klarheit mit der Schönheit des Ausdrucks zu verknüpfen und so dem Leser und Hörer des Wortes Freude an Gott und seiner Kirche zu schenken. Zugleich sind Sie als Theologe der Kirche stets darauf bedacht, den „einfachen“ Glauben der Kleinen (vgl. Mt 11,25) zu verteidigen, indem Sie mit prophetischem Freimut dem Diktat des Zeitgeistes Widerstand leisten.
Bonaventura, der in seiner Zeit den apostolischen Glauben der Kirche verteidigte, hat die Institution und Heiligkeit nicht als Gegensätze begriffen. Als Theologe, „der denkt und betet“, hat er gerade in dieser Weise sein Leitungsamt wahrgenommen. In seinem Ansatz wird Theologie als eine scientia secundum pietatem verstanden, „als eine Wissenschaft, die auf die Vervollkommnung des ganzen Menschen in Erkenntnis, Willen und Gemüt ausgerichtet ist“.
Theologie in Studium und Wissenschaft soll zur Stärkung des Glaubens anderer und zur freudvollen Vertiefung der eigenen Beziehung zu Gott führen. Theologie, so verstanden, ist ein Weg zur Heiligkeit. Es geht um das „sursum corda“, um die Bewegung zu Gott. Hierin liegt ein besonderer und bleibender Auftrag. Jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung, dass der Doktorvater eine prägende Figur jedes jungen Wissenschaftlers ist. Daher kann hier der Theologe und Philosoph Gottlieb Söhngen nicht unerwähnt bleiben, dessen Größe in der Weite seines Ausgriffs lag, wie es Joseph Ratzinger beim Requiem für seinen Lehrer formulierte. In seinem Leben wir deutliche, dass der Glaube sich vor den Anfragen der Wissenschaften nicht fürchten muss, wenn der Glaube des theologisch Ringenden ein radikaler Glaube ist. Ein Glaube, der aus eigener Erfahrung mit Gott weiß, dass sich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs in Jesus Christus offenbart hat. Ein Glaube, der einen Akt des Glaubensentscheides voraussetzt.
Hier liegt meines Erachtens die ganz große Chance. Als Theologen dürfen wir furchtlos nach der Wahrheit fragen, da der Theologe nicht die Wahrheit formt, sondern die Wahrheit den Theologen formt. Wir könnten also nicht nach der Wahrheit fragen, wenn diese uns nicht schon begegnet wäre. Aus dieser Begegnung heraus dürfen wir Hoffnung schöpfen und den Glauben weiter tragen. Die notwendigen Begleiter dazu sind die großen Theologen der Kirchengeschichte. Allen voran die Kirchenväter und die Kirchenlehrer. Die Kirchenväter sind „die wahren Sterne, die aus der Ferne strahlen“. Sie leben aus der Heiligen Schrift und sie stehen Christus innerlich nahe, sie sind Lehrer der ungeteilten Kirche. Von dem „ad fontes“ sollte sich ein Theologe in Studium und Lehre tragen lassen. Wir lassen uns belehren von den Heiligen, von Menschen, die wissen, dass Gott allein zählt, von den in der Tradition bewanderten, von den im Wort Gottes verankerten.
Diese Form von existentieller Theologie haben wir in Ihnen, Heiliger Vater, gefunden. Bei Ihnen ist „Theologie und kirchliches Leben in besonderer Weise zu einer Einheit verschmolzen“. Sie verwirklichen, was Thomas von Aquin in seinem Epheserkommentar kurz und bündig bemerkt: „Der Apostel spricht von Hirten, also Leuten, welche die Sorge für die Herde des Herrn tragen; und er fügt gleich hinzu: und Lehrer, um zu zeigen, dass es wesentlich zur Aufgabe der Hirten gehört, zu lehren (proprium officium pastorum ecclesiae est docere), was den Glauben und die Sitten betrifft.“ Wir wollen Theologie als Rede von Gott verstehen, die aus der lebendigen Begegnung mit dem kommt, von dem wir sprechen dürfen – eine Begegnung, die uns in der Kirche geschenkt ist. Und als Verkündigung, die wiederum zu lebendiger Begegnung führen soll – zum Gebet. Als Theologen wollen wir gemeinsam mit Ihnen Cooperatores veritatis sein, uns demütig, zuversichtlich und ohne Furcht dem wissenschaftlichen Disput der „Universitas scientiarum“ stellen, indem wir fides und ratio nicht als Gegensätze begreifen. Mit Vernunft fragen wir nach Gott, der die Wahrheit ist, und der Grund und das Ziel der menschlichen Existenz und tun dies „im Zusammenhang der Überlieferung des christlichen Glaubens“.
Ein herzliches „Vergelt’s Gott“ für diesen Preis und für Ihren Dienst in Kirche und Welt, sowie Gottes Segen zu Ihrem Diamantenen Priesterjubiläum, damit uns der Glanz der Wahrheit weiterhin leuchtet: ad multos annos felixissimos!
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Clementina-Saal, Donnerstag, 30. Juni 2011
Verehrte Herren Kardinäle,
liebe Mitbrüder,
sehr geehrte Damen und Herren!
Zunächst möchte ich meine Freude und Dankbarkeit darüber ausdrücken, daß die nach mir benannte Stiftung mit der Verleihung ihres theologischen Preises das Lebenswerk zweier großer Theologen öffentlich anerkennt und einem Theologen der jüngeren Generation ein Zeichen der Ermutigung zum Fortschreiten auf dem begonnenen Weg gegeben hat.
Mit Professor González de Cardedal verbindet mich eine Weggemeinschaft vieler Jahrzehnte. Wir haben beide mit dem hl. Bonaventura begonnen und uns von ihm die Richtung zeigen lassen. Professor González hat in einem langen Leben als Gelehrter alle großen Themen der Theologie behandelt und dabei nie nur vom Schreibtisch aus gedacht oder gesprochen, sondern sich immer dem Drama unserer Zeit gestellt, ganz persönlich die großen Fragen des Glaubens und damit die Fragen des Menschen von heute durchlebt und auch durchlitten. Das Wort des Glaubens ist da nicht eine Sache von gestern; es wird in seinen Werken wirklich gleichzeitig mit uns.
Professor Simonetti hat uns die Welt der Väter neu erschlossen. Gerade indem er uns genau und sorgsam historisch aufzeigt, was die Väter sagen, werden sie zu Zeitgenossen, die mit uns sprechen.
Pater Maximilian Heim ist vor kurzem zum Abt des traditionsreichen Klosters Heiligenkreuz bei Wien gewählt worden und hat damit den Auftrag übernommen, eine große Geschichte gegenwärtig zu halten und in die Zukunft hineinzuführen. Ich hoffe, daß ihm die Arbeit über meine Theologie, die er uns geschenkt hat, dabei eine Hilfe sein kann und daß die Abtei Heiligenkreuz in dieser unserer Zeit die monastische Theologie weiter entfalten kann, die immer die Universitäts-Theologie begleitete und mit ihr zusammen das Ganze der abendländischen Theologie gestaltet hat.
Aber es ist ja nicht mein Auftrag, hier eine Laudatio über die Preisträger zu halten, die von kompetenter Seite durch Kardinal Ruini schon geleistet worden ist. Vielleicht aber kann die Preisverleihung ein Anlaß sein, der Grundfrage einen Augenblick nachzugehen, was denn das ist „Theologie“. Theologie ist Glaubenswissenschaft, sagt uns die Überlieferung. Aber da erhebt sich sofort die Frage: Geht das eigentlich? Oder ist dies nicht ein Widerspruch in sich selbst? Ist Wissenschaft nicht der Gegensatz zu Glauben? Hört Glaube nicht auf, Glaube zu sein, wenn er Wissenschaft wird? Und hört Wissenschaft nicht auf, Wissenschaft zu sein, wenn sie sich dem Glauben zuordnet oder gar unterordnet? Solche Fragen, die schon für die mittelalterliche Theologie ein ernstes Problem bedeuteten, sind mit dem neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff nur noch drängender, auf den ersten Augenblick geradezu aussichtslos geworden. So ist es zu verstehen, daß sich die Theologie in der Neuzeit in weiten Bereichen zunächst ins Historische zurückgezogen hat, um hier ihre ernste Wissenschaftlichkeit zu beweisen. Man muß dankbar anerkennen, daß dabei Großartiges geleistet wurde und neue Lichter auf die christliche Botschaft fielen, die ihren inneren Reichtum sichtbar machen. Aber wenn Theologie sich ganz in die Vergangenheit zurückzieht, läßt sie den Glauben heute im Dunklen stehen. In einer zweiten Phase hat man sich dann auf die Praxis konzentriert, um in der Verbindung mit Psychologie und Soziologie Theologie als nützliche Wissenschaft zu erweisen, die praktische Weisungen für das Leben schenkt. Auch dies ist wichtig, aber wenn dabei das Fundament der Theologie, der Glaube, unbedacht bleibt, wenn Praxis nur noch sich selbst betreiben würde oder allein von den Leihgaben der Humanwissenschaft lebt, dann wird die Praxis leer und grundlos.
So reichen diese Wege nicht aus. So nützlich und wichtig sie sind, sie würden zu Ausflüchten, wenn die eigentliche Frage nicht beantwortet würde. Sie lautet: Ist das wahr, was wir glauben oder nicht? In der Theologie geht es um die Frage nach der Wahrheit; sie ist ihr letzter und eigentlicher Grund. Ein Wort von Tertullian kann uns hier einen Schritt weiterführen; er schreibt, daß Christus nicht gesagt hat: Ich bin die Gewohnheit, sondern: Ich bin die Wahrheit – non consuetudo sed veritas (Virg 1, 1). Christian Gnilka hat gezeigt, daß der Begriff consuetudo die heidnischen Religionen bezeichnen kann, die ihrem Wesen nach nicht Glauben, sondern „Gewohnheit“ waren: Man tut, was man seit je getan hat, man beobachtet die überlieferten kultischen Gestalten und hofft, so im rechten Verhältnis zum geheimnisvollen Bereich des Göttlichen zu bleiben. Das Revolutionäre des Christentums war in der Antike gerade der Bruch mit der „Gewohnheit“ um der Wahrheit willen. Tertullian spricht hier vor allem vom Evangelium des heiligen Johannes her, in dem auch die andere grundlegende Interpretation des christlichen Glaubens zu finden ist, die sich in der Bezeichnung Christi als Logos ausdrückt. Wenn Christus der Logos, die Wahrheit ist, dann muß der Mensch ihm mit seinem eigenen Logos, mit seiner Vernunft entsprechen. Er muß, um zu Christus zu kommen, auf dem Weg zur Wahrheit sein. Er muß sich dem Logos öffnen, der schöpferischen Vernunft, von der seine eigene Vernunft herkommt und auf den sie ihn verweist. Von da aus versteht man, daß der christliche Glaube von seinem eigenen Wesen her Theologie hervorbringen, nach der Vernunft des Glaubens fragen mußte, auch wenn natürlich der Begriff Vernunft und derjenige der Wissenschaft viele Dimensionen umfassen und damit das konkrete Wesen des Zusammenhangs von Glaube und Vernunft immer neu ausgelotet werden mußte und muß.
So klar also der grundsätzliche Zusammenhang von Logos, Wahrheit und Glaube im Christentum dasteht – die konkrete Form dieses Zusammenhangs gab und gibt immer neue Fragen auf. Es ist klar, daß diese Frage, die alle Generationen bewegt hat und bewegen wird, in dieser Stunde nicht im einzelnen und nicht einmal in großen Zügen behandelt werden kann. Nur eine ganz kleine Anmerkung möchte ich versuchen. Der heilige Bonaventura hat im Prolog zu seinem Sentenzen-Kommentar von einem zweifachen Gebrauch der Vernunft gesprochen – von einem Gebrauch, der mit dem Wesen des Glaubens unvereinbar ist und von einem, der gerade zu seinem Wesen gehört. Es gibt, so sagt man, die violentia rationis, die Selbstherrlichkeit der Vernunft, die sich zum obersten und letzten Richter über alles macht. Diese Art von Vernunftgebrauch ist freilich im Bereich des Glaubens unmöglich. Was meint er damit? Ein Wort aus Psalm 95,9 kann uns zeigen, worum es geht. Hier sagt Gott zu seinem Volk: „Dort – in der Wüste – haben eure Väter mich versucht, haben mich auf die Probe gestellt, obgleich sie doch meine Werke gesehen hatten.“ Zweierlei Begegnung mit Gott ist hier angesagt: Sie haben „gesehen“. Aber das reicht ihnen nicht. Sie stellen Gott „auf die Probe“. Sie wollen ihn dem Experiment unterwerfen. Er wird gleichsam ins Verhör genommen und muß sich einem experimentellen Prüfungsvorgang unterwerfen. Diese Weise des Vernunftgebrauchs ist in der Moderne im Bereich der Naturwissenschaft zu ihrer vollen Entfaltung gekommen. Die experimentelle Vernunft erscheint heute weithin als die einzig wissenschaftlich erklärte Form von Vernünftigkeit. Was nicht experimentell verifiziert oder falsifiziert werden kann, fällt aus dem wissenschaftlichen Bereich heraus. Mit diesem Ansatz ist Großartiges geleistet worden, wie wir wissen; daß er im Bereich der Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetze richtig und notwendig ist, wird niemand im Ernst bestreiten wollen. Aber es gibt eine Grenze dieses Vernunftgebrauchs: Gott ist kein Objekt des menschlichen Experimentierens. Er ist Subjekt, und nur in der Begegnung von Person zu Person zeigt er sich: Dies gehört zum Wesen von Person.
So benennt Bonaventura dann einen zweiten Gebrauch der Vernunft, der für den Bereich des Personalen, für die großen Fragen des Menschseins selber gilt. Die Liebe will den besser kennen, den sie liebt. Liebe, wirkliche Liebe, macht nicht blind, sondern sehend. Zu ihr gehört gerade der Durst nach Erkenntnis, nach wirklichem Kennen des anderen. Weil es so ist, haben die Kirchenväter – außerhalb der Offenbarungswelt Israels – die Vorläufer und Wegbereiter des Christentums nicht im Bereich der Gewohnheitsreligion gefunden, sondern in den gottsuchenden Menschen, in den „Philosophen“ – den Menschen, die nach Wahrheit dürsteten und so auf dem Weg zu Gott waren. Wenn es diesen Vernunftgebrauch nicht gibt, dann fallen die großen Menschheitsfragen aus dem Bereich der Vernunft heraus und werden der Irrationalität überlassen. Deswegen ist eigentliche Theologie so wichtig. Der rechte Glaube leitet die Vernunft an, sich dem Göttlichen zu öffnen, um Gott unter der Führung der Liebe zur Wahrheit näher kennenzulernen. Die Initiative für diesen Weg liegt bei Gott, der dem Menschen das Suchen nach seinem Angesicht ins Herz gelegt hat. So gehört zur Theologie zum einen die Demut, die sich von Gott anrühren läßt, andererseits die Zucht, die sich an die Ordnung der Vernunft bindet, die Liebe vor Blindheit hütet und ihre sehende Kraft entfalten hilft.
Ich bin mir bewußt, daß mit alledem die Frage nach der Möglichkeit und dem Auftrag der rechten Theologie nicht beantwortet ist, sondern erst die Größe der Herausforderung erscheint, die im Wesen der Theologie enthalten ist. Aber gerade diese Herausforderung braucht der Mensch, weil sie uns dazu drängt, unsere Vernunft zu öffnen, indem wir nach der Wahrheit selbst, nach Gottes Angesicht fragen. So danken wir auch den Preisträgern, die uns mit ihren Arbeiten gezeigt haben, daß die Vernunft, indem sie auf dem Weg voranschreitet, den ihr der Glaube vorgezeichnet hat, nicht eine entfremdete Vernunft sein kann, sondern eine, die ihrer höchsten Berufung entspricht.
Herzlichen Dank.